Psychosoziale Belastungen im Lehramt

Heinrich Dauber und Witlof Vollstädt

Psychosoziale Belastungen im Lehramt - Empirische Befunde zur Frühpensionierung und erste Schlussfolgerungen

„Keine Berufsgruppe legt sich so oft beim Psychologen auf die Couch. Keine Beamtenart wechselt so früh in den Vorruhestand. 60 Prozent der Klienten einer Depressionssprechstunde an der Freien Universität Berlin, so die schockierende Meldung, sind Lehrer“ (Füller 2002). Nicht erst seit Bekanntgabe der PISAErgebnisse ist die Frühpensionierung von Lehrkräften den Massenmedien für eine Schlagzeile gut. Auch die Parlamente der Länder und ihre Haushaltsausschüsse befassen sich notgedrungen seit Mitte der 90er Jahre immer häufiger mit dem wachsenden Anteil von Frühpensionierungen aus gesundheitlichen Gründen und den damit verbundenen zusätzlichen Kosten. Mittlerweile hat sich auch die Forschung verstärkt diesem Problem zugewendet und zahlreiche empirische Daten gesammelt (vgl. Schaarschmidt 2002; Sieland/Tacke2000; Sieland 2002).

Auch in Hessen sind in den letzten Jahren über 2.000 Lehrer pro Jahr aus dem Schuldienst des Landes ausgeschieden, ca. 65 Prozent von ihnen aus Krankheitsgründen vor Erreichen der Altersgrenze. Das Durchschnittsalter dieser frühpensionierten Kolleginnen und Kollegen liegt, wie auch in anderen Bundesländern, seit Jahren ziemlich konstant bei etwa 57 Jahren . Je nach Besoldungs und Dienstaltersstufe entsteht für jede(n) dieser Lehrer(innen) eine Jahresmehrbelastung für den Landeshaushalt zwischen 20.000 und 30.000 Euro. Das ergibt – grob überschlagen – allein in einem Haushaltsjahr weit über 25 Millionen Euro zusätzliche Kosten. Die dafür verbrauchten Mittel fehlen letztlich auch in den Schulen und wären dringend erforderlich, um die Arbeitsbedingungen von Schülern und Lehrern zu verbessern. Die mit einer Frühpensionierung verbundenen und sich über Jahre hinziehenden Kosten für das Gesundheitssystem sind kaum abschätzbar; schwerer wiegen noch die persönlichen, nicht quantifizierbaren Folgen länger andauernder und schließlich zum Ausscheiden aus dem Beruf führender Krankheit für die Betroffenen, ihre Familien und last not least die Schülerinnen und Schüler.

Was sind die hauptsächlichen Belastungsfaktoren im Lehrerberuf, die zur Frühpensionierung aus Krankheitsgründen führen? Wie gehen Lehrerinnen und Lehrer mit diesen Belastungsfaktoren um? Was kann bzw. muss getan werden, um diese Belastungen rechtzeitig zu verringern und eine stabilere Gesundheit der Lehrkräfte zu erreichen?

Diese und weitere Fragen standen im Mittelpunkt der Arbeit einer interdisziplinären Arbeitsgruppe ‚Psychosoziale Belastungen im Lehramt’ am Zentrum für Lehrerbildung der Universität Kassel, in der seit Sommer 2001 Lehrerbildner aus allen drei Phasen der Lehrerbildung sowie Schulpsychologen, ärztliche Psychotherapeuten, Schulleiter und Schulverwaltungsbeamte zusammengearbeitet haben. Zunächst wurde eine empirische Untersuchung durchgeführt, um ein konkretes Bild vom Stand der Frühpensionierung  in Nordhessen zu ermitteln. Auf der Grundlage der ermittelten Befunde und bereits stattfindender Aktivitäten zur Gesundheitsförderung im Lehramt wurden anschließend erste Vorschläge erarbeitet, wie die Lehrerbildung in allen Phasen zur Verringerung der Frühpensionierung beitragen kann.

Eine Befragung frühpensionierter Lehrkräfte in der nordhessischen Region

Zum forschungsmethodischen Vorgehen und zur Stichprobe

Im August 2002 wurden vom Zentrum für Lehrerbildung der Universität Kassel 1317 Lehrerinnen und 1517 Lehrer (insgesamt 2834) aller Schulstufen und arten, die zwischen 1996 und 2002 im Regierungsbezirk Kassel aus Krankheitsgründen frühpensioniert worden waren, schriftlich befragt. Mit einem anonymisierten Fragebogen wurden einerseits die von den frühpensionierten Lehrkräfte subjektiv empfundenen Belastungsfaktoren während ihrer aktiven Dienstzeit (mit 45 Items) und andererseits die Formen der Verarbeitung dieser Belastungen (mit 11 Items) – aus ihrer heutigen (retrospektiven) Sichtweise – erfasst.  Ziel der Untersuchung war somit, sowohl die – aus der Sicht der Betroffenen – zum Ausscheiden aus dem Dienst führenden Belastungsfaktoren zu identifizieren als auch diese in Beziehung zu setzen zu spezifischen Verarbeitungsformen dieser Belastungen, um daraus Konsequenzen für Präventions und Unterstützungsmaßnahmen in allen Phasen der Lehrerbildung ziehen zu können. Bei der Konstruktion des Fragebogens wurde zum Teil auf  die Untersuchungen von Schaarschmidt (2002) zurückgegriffen, der unter anderem mit dem entfalteten Selbsteinschätzungsverfahren AVEM (Arbeitsbezogenes Verhaltens und Erlebensmuster) elf als relevant ausgewiesene persönliche Verhaltensdimensionen ermittelt und mit der Clusteranalyse vier Muster des beruflichen Bewältigungsverhaltens unterschieden hatte. Diese elf Dimensionen haben wir mit unserem Fragebogen auch den in Nordhessen frühpensionierten Lehrkräften zur Stellungnahme vorgelegt. Die Befragung wurde vom Hessischen Kultusministerium genehmigt und aus Mitteln des HKM und des HMWK gefördert.

Der Rücklauf betrug knapp 51 Prozent. Zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer ergänzten den standardisierten Fragebogen durch persönliche, schriftliche und mündliche Stellungnahmen. Eine solche Reaktion ist bei einer freiwilligen anonymen Befragung relativ selten und zeugt von dem großen Interesse der Betroffenen, ihre Probleme auf den Tisch zu legen und einer größeren Öffentlichekit zugänglich zu machen.

Durch die freiwillige Teilnahme an der schriftlichen Befragung ergab sich folgende zufällige Zusammensetzung der Stichprobe:

nach dem Geschlecht: 

56% männlich, 44% weiblich

nach den Jahren im Schuldienst (bis zum Ausscheiden):

mit 10 Dienstjahren: 1 %
mit 20 Dienstjahren: 4 %
mit 30 Dienstjahren: 41 %
mit 31 und mehr Dienstjahren: 54 %
                        
Fast alle (99 %) schieden wegen Dienstunfähigkeit aus.

nach dem Lebensalter beim Ausscheiden:

bis 50 Jahre: 7 %
von 51 Jahre: 55 %
60 Jahre und älter: 37 %

Damit war mehr als die Hälfte der Befragten beim Erreichen des 60. Lebensjahres bereits aus dem Schuldienst ausgeschieden. 

nach der Schulform:

Von den Befragten arbeiteten

  • in Grundschulen 33 %
  • in kooperativen Gesamtschulen 15 %
  • in integrierten Gesamtschulen 9 %
  • in Haupt und Realschulen 12 %
  • in Gymnasien 10 %
  • in beruflichen Schulen  13 %

nach ihrer Ausbildung (Mehrfachnennungen waren möglich):

  • Lehramt Grundschule 49 %
  • Lehramt Haupt und Realschule 66 %
  • Lehramt Gymnasium 17 %
  • Lehramt Berufsschule 14 %
  • Lehramt Sonderschule 2 %

Der Vergleich mit den am häufigsten genannten Schulformen zum Zeitpunkt des Ausscheidens führt zur Vermutung, dass wahrscheinlich einige der frühpensionierten Lehrkräfte mit dem Lehramt für Haupt und Realschulen zum Ende ihrer Berufstätigkeit in Grundschulen gearbeitet haben.

Weniger als 1 Prozent der Frühpensionierten wurde eine andere Tätigkeit angeboten,  21 Prozent hätten jedoch eine solche akzeptiert . Diese Lehrkräfte (n = 211) hätten sich zu 36 Prozent Verwaltungstätigkeiten oder Tätigkeiten in Bibliotheken und zu 20 Prozent Stundenreduzierungen bzw. den Einsatz in der Lehrerfortbildung vorstellen können.

Etwa 30 Prozent der Befragten hatten zum Zeitpunkt ihres Ausscheidens eine Funktionsstelle.

Empirische Daten

Als Gründe für die Dienstunfähigkeit wurden angegeben:

  • Psychische, psychosomatische Erkrankungen: 49 % (n = 701)
  • Erkrankungen des Bewegungsapparates 47 % (n= 666)
  • HerzKreislaufErkrankungen 38 % (n= 539)
  • Stoffwechselerkrankungen 15 % (n= 216)
  • Erkrankungen des Atmungssystems 14 % (n= 200)
  • Krebs   9 % (n= 197)

Damit ist offensichtlich, dass es häufig mehrere Erkrankungen gab, die zur Dienstunfähigkeit führten. Psychische und psychosomatische Erkrankungen korrelieren nicht mit einzelnen, sondern jeweils mit einem ganzen Bündel von Belastungsfaktoren. Für andere, somatische Krankheitsbilder lassen sich keine Korrelationen mit bestimmten Belastungen feststellen. Auf diese Weise lässt sich vermuten, dass in der Regel alle übrigen Erkrankungen (entweder ursächlich oder als Folgeerscheinung) mit psychischen bzw. psychosomatischen Erkrankungen verknüpft sind.

Von den 390 Befragten, die ihre somatische Krankheit genauer angegeben haben, sind allein 32 Prozent wegen Hörschäden (Tinnitus, Hörsturz, Schwerhörigkeit) ausgeschieden. Magen-Darm-Erkrankungen, Probleme mit den Augen und der Stimme wurden von jeweils etwa acht  Prozent, weitere Erkrankungen noch seltener angegeben.

Als Hauptbelastungsfaktoren wurden vor allem genannt:

  •  die Fülle der Anforderungen, insbesondere Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten bei Schülern
  •  immer mehr Erziehungsaufgaben
  •  zu viele Schüler(innen) in einer Klasse
  •  undisziplinierte Schüler
  •  große Leistungsunterschiede zwischen den Kindern und Jugendlichen
  •  sinkende Lernmotivation bei Schülerinnen und Schülern
  •  hoher Lärmpegel
  •  labiler Gesundheitszustand
  •  hoher Verantwortungsdruck
  •  zu wenig wirksame Sanktionsmöglichkeiten
  •  hoher Verwaltungsaufwand (Zunahme der administrativen Pflichten; generell zu viele Vorschriften   und Vorgaben)
  •  hohe Pflichtstundenzahl/zu hohe wöchentliche Arbeitszeit

Zusätzlich wurden angegeben:

  •  Probleme in der Zusammenarbeit mit Eltern
  •  zu wenig Unterstützung durch die Schulleitung und das Schulamt
  •  Mobbing durch die Schulleitung und im Kollegium
  •  schulorganisatorische Schwierigkeiten

Keine oder nur geringe Belastungen haben hervorgerufen:

  • fachfremder Unterricht
  • Fortbildung außerhalb der Dienstzeit
  • unzureichende Bezahlung
  • Nutzung neuer Medien
  • Differenzen mit der Schulleitung
  • Konkurrenzdruck im Kollegium
  • schlechter baulicher Zustand der schulischen Gebäude.

Dabei zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung von Belastungsfaktoren:

Lehrer leiden stärker unter Schulunlust und sinkender Lernmotivation der Schüler als Lehrerinnen;

  • Lehrerinnen hingegen unter hyperaktiven Schülern.

Lehrerinnen finden besonders belastend die Gestaltung sozialer Beziehungen, möglichen Konkurrenzdruck im Kollegium, die Bewertungspflicht für schulische Leistungen, einen hohen Lärmpegel im Unterricht, einen hohen Verantwortungsdruck.

Lehrer hingegen fühlen sich dagegen eher durch Vorschriften und Vorgaben belastet.

Für Lehrerinnen spielt  die Bedeutsamkeit der Arbeit, ihre Verausgabensbereitschaft und ihr Perfektionsstreben  eine überdurchschnittliche Rolle, für Lehrer ihr beruflicher Ehrgeiz.

Mit steigendem Alter bzw. höheren Dienstjahren spielen folgende Belastungsfaktoren eine geringere Rolle:

  • Mangel an Kooperation mit Kollegen
  • Mangel an konstruktivem Feedback
  • Enttäuschung eigener beruflicher Erwartungen
  • Differenzen mit der Schulleitung
  • fachfremder Unterricht

Auch im Blick auf die unterschiedlichen Verarbeitungsformen von Belastungen konnte kein Zusammenhang mit der Zahl der Dienstjahre festgestellt werden.

Bezogen auf die Schulform lassen sich folgende Belastungsfaktoren unterscheiden:

Grundschulen:

stark ausgeprägt

  • Zunahme von Erziehungsaufgaben 
  • Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten von Schülern hyperaktive Schüler (extrem) 
  • Verantwortung für die Gestaltung sozialer Beziehungen 
  • hohe Pflichtstundenzahl 
  • Neuerungen im Schulsystem 

schwach ausgeprägt

  • Schulunlust der Schüler 
  • fehlende elterliche Unterstützung 
  • Mangel an Gestaltungsspielraum für eigene Ideen 
  • schwieriges Zeitmanagement
  •  zu viele Vorschriften und Vorgaben 
  • geringe Effizienz bei der Unterrichtsplanung 
  • wenig Sanktionsmöglichkeiten 
  • sinkende Lernmotivation
Haupt und Realschulen:

stark ausgeprägt

  •  Schulunlust der Schüler
  •  lernschwierige Schüler
  •  fehlende elterliche Unterstützung
  •  fehlende Unterstützung durch außerschulische Institutionen
  •  Mangel an konstruktivem Feedback
  •  Zunahme von Erziehungsaufgaben
  •  Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten bei Schülern (extrem)
  •  zu viele Schüler pro Klasse
  •  Zunahme ethnischer Vielfalt
  •  Sinkende Lernmotivation
  •  geringe Effizienz bei der Unterrichtsplanung
  •  hoher Lärmpegel
  •  wenig Sanktionsmöglichkeiten schwach ausgeprägt 
  •  Mangel an Gestaltungsspielraum für eigene Ideen
Gesamtschulen:

Für diese Schulform wurden nur über-, aber keine unterdurchschnittlichen Belastungen genannt:

beide Gesamtschultypen:

  • Schulunlust der Schüler 
  • lernschwierige Schüler 
  • fehlende elterliche Unterstützung 
  • Mangel an Gestaltungsspielraum für eigene Ideen 
  • schwieriges Zeitmanagement 
  • enttäuschte berufliche Erwartungen
  • Zunahme von Verhaltensauffällligkeiten bei Schülern
  • sinkende Lernmotivation (extrem) 
  • hoher Lärmpegel

Integrierte Gesamtschule:

  • Zunahme von Erziehungsaufgaben 
  • zu viele Schüler pro Klasse 
  • Verantwortung für die Gestaltung sozialer Beziehungen 
  • fachfremder Unterricht 

Kooperative Gesamtschule: 

  • zu viele Vorschriften und Vorgaben 
  • wenig Sanktionsmöglichkeiten

berufliche Schulen:

stark ausgeprägt

  • Schulunlust der Schüler 
  • Mangel an Gestaltungsspielraum für eigene Ideen 
  • enttäuschte berufliche Erwartungen 
  • Zunahme ethnischer Vielfalt 
  • sinkende Lernmotivation 

schwach ausgeprägt 

  • Zunahme von Erziehungsaufgaben 
  • Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten von Schülern 
  • zu viele Schüler pro Klasse 
  • hyperaktive Schüler 
  • Verantwortung für die Gestaltung sozialer Beziehungen 
  • hohe Pflichtstundenzahl 
  • schlechter Zustand der Gebäude

Gymnasium:

stark ausgeprägt 

  • Mangel an Gestaltungsraum für eigene Ideen 
  • schwieriges Zeitmanagement 
  • zu viele Schüler pro Klasse
  • zu viele Vorgaben und Vorschriften 
  • hohe Pflichtstundenzahl 
  • schlechter Zustand der Gebäude 

schwach ausgeprägt

  • Schulunlust der Schüler 
  • lernschwierige Schüler fehlende
  • elterliche Unterstützung 
  • Zunahme von  Erziehungsaufgaben 
  • Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten von Schülern (stark unterdurchschnittlich)
  • Zunahme ethnischer Vielfalt (extrem unterdurchschnittlich!) 
  • sinkende Lernmotivation 
  • hyperaktive Schüler
  • Verantwortung für die Gestaltung sozialer Beziehungen 
  • fachfremder Unterricht 
  • hoher Lärmpegel 
  • wenig Sanktionsmöglichkeiten

Ein besonderer Belastungsfaktor ‚undisziplinierte Schüler’ wird – rückblickend –  nach Schulformen extrem unterschiedlich beurteilt:

Während etwa ein Drittel der Grundschullehrkräfte diesen Faktor als belastend benennen, sind es schon über 40 Prozent bei den Gesamtschul- und Berufsschullehrern und sogar über 50 Prozent der Haupt- und Realschullehrer; aber nur 14 Prozent der Gymnasiallehrer.

Die Wahrnehmung einer Funktionsstelle wirkt sich entlastend auf die befragten Lehrerinnen und Lehrer aus. Dabei spielt der Faktor ‚beruflicher Ehrgeiz’ neben einer minderen Lehrverpflichtung (und damit verbunden einer niedrigeren Belastungswahrnehmung durch Schüler) die entscheidende Rolle.

Im Blick auf die abgefragten 45 Belastungsfaktoren insgesamt lassen sich faktorenanalytisch keine Einzelfaktoren extrahieren, da viele sehr eng miteinander zusammenhängen bzw. Doppelladungen aufweisen.

Dies bedeutet, dass die Fülle der Belastungen als entscheidend angesehen werden kann.

Über 60 Prozent der Befragten geben an, unter 20 und mehr Belastungsfaktoren gelitten zu haben. Mit zunehmender Zahl an wahrgenommenen Belastungsfaktoren steigt auch die Häufigkeit der Nennung ‚Tendenz zur Resignation’ als Verarbeitungsform, interessanterweise aber auch die Gewichtung von ‚subjektiver Bedeutsamkeit der Arbeit’, ‚Verausgabungsbereitschaft’ und ‚Perfektionsstreben’.

Dabei ist eine deutlich überproportionale Zunahme von psychischen bzw. psychosomatischen Erkrankungen bei denjenigen Lehrerinnen und Lehrern zu erkennen, die undisziplinierte Schüler und andere damit zusammenhängende Interaktionsvariablen Faktoren als sehr starke bzw. starke Belastung angegeben hatten.

Nur der Faktor ‚Tendenz zur Resignation’ bildet einen statistisch relevanten Zusammenhang mit psychischen und psychosomatischen Krankheiten, aber auch der Zahl der Erkrankungen insgesamt. 

Im Gegensatz dazu spielen psychische oder psychosomatische Erkrankungen eine unterproportional häufige Rolle bei denjenigen Lehrerinnen und Lehrern, die hohe Werte erreichen bei den Faktoren ‚innere Ruhe und Ausgeglichenheit’ sowie ‚Lebenszufriedenheit’. Der Faktor ‚Distanzierung’ kann sich entlastend auswirken, aber auch in Zusammenhang mit ‚Resignation’  als Ausdruck einer inneren Kündigung betrachtet werden.

Im Blick auf den Umgang mit beruflichen Belastungen ergeben sich drei Hauptkomplexe zusammenhängender Faktoren, ähnlich den von Schaarschmidt (2002) ermittelten vier Mustern beruflichen  Bewältigungsverhaltens.

Bei unseren Untersuchungen ergeben sich allerdings lediglich drei solcher Muster, mit denen knapp 60 Prozent der Varianz erklärt werden kann, wobei allein der erste mit fast 30 Prozent den größten Teil der Varianz erklärt.

Dieser Faktor 1 umfasst die Ladungsvariablen Lebenszufriedenheit, Erfolgserleben im Beruf, Erleben sozialer Unterstützung, innere Ruhe und Ausgeglichenheit, offensiver Umgang mit Problemen. Diese insgesamt positive berufliche Motivation entsteht offensichtlich als Ergebnis aus externen Einflüssen, beruflichen Resultaten und eigenen allgemeinen positiven Einstellungen bzw. Grundhaltungen.

Faktor 2 umfasst die Variablen Verausgabungsbereitschaft, Perfektionsstreben, Bedeutsamkeit der Arbeit, beruflicher Ehrgeiz (15,7% der Varianzerklärung).

Mit diesem Faktor wird der Zusammenhang von Leistungsbereitschaft und Motivation in beruflichen Situationen angesprochen. Damit kann die Vermutung formuliert werden, dass die berufliche Tätigkeit selbst, besonders dann, wenn sie erfolgreich verläuft, zur positiven Verarbeitung beruflicher Belastungen und damit zur Gesunderhaltung beitragen kann.

Faktor 3 umfasst die Variablen Distanzierungsfähigkeit, Tendenz zur Resignation, innere Ruhe und Ausgeglichenheit (als doppelt ladender Faktor hier eher negativ erlebt).  Dieser Faktor verweist auf Persönlichkeitseigenschaften, die in ihrem Zusammenwirken in der Tendenz eher als gesundheitliches Risiko zu verstehen sind.

Da wir danach gefragt haben, wie die beruflichen Belastungen persönlich verarbeitet wurden, geben diese drei Faktoren insgesamt Auskunft darüber, welche Persönlichkeitseigenschaften miteinander verknüpft sind, wenn entsprechende Wirkungen beim erfolgreichen oder weniger erfolgreichen Umgang mit beruflichen Belastungen erreicht werden. Allerdings dürfen diese mit der Faktorenanalyse ermittelten drei Faktoren keinesfalls als vorgefundene Persönlichkeitsklassifikation von Lehrern unserer Untersuchungsgruppe aufgefasst werden. Hierzu sind weitere differenziertere Untersuchungen erforderlich, die auch die Perspektive der Lehrkräfte berücksichtigen, die nicht aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig pensioniert wurden.

Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse und erste Interpretationen

1. Das hohe Interesse an unserer Untersuchung kann zugleich als dringende Aufforderung gewertet werden, psychosozialen Belastungen nicht nur größere Aufmerksamkeit zu schenken, sondern auch mit konkreten Konzepten, Strategien und bildungspolitischen Entscheidungen konsequenter Rechnung zu tragen. Dabei sind alle Phasen der Lehrerbildung genauso gefordert wie die Lehrerfortbildung, die Schulverwaltung, die Schul und Bildungspolitik und vor allem die Schulpraxis selbst. Am belastendsten war für die meisten aus Krankheitsgründen frühpensionierten Lehrer und Lehrerinnen vor allem die zunehmende Fülle der ihnen übertragenen Aufgaben. Insbesondere im Bereich der Erziehungsaufgaben nimmt die Belastung durch die wachsende Zahl von verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern zu. Dieses Problem kulminiert im Bereich von Hauptschulen und Berufsschulen.

2. Da die Quote an Frühpensionierungen wegen Berufsunfähigkeit in den Grundschulen, Berufsschulen und bei Haupt und Realschullehrern besonders hoch, sollten Maßnahmen zur beruflichen Entlastung und zur Unterstützung beim Umgang mit belastenden Faktoren schulformspezifisch konzipiert und realisiert werden.

3. Das Problem einer großen Zahl von Frühpensionierungen besteht nicht primär darin, dass ältere Lehrer aufgrund ihres Alters den Anforderungen ihres Berufes nicht mehr gewachsen sind, sondern dass sich Fülle und Art der externen Belastungen auf Dauer gesundheitlich negativ auswirkt. Die Zahl der Frühpensionierungen lässt sich  – aus retrospektiver Sicht der frühpensionierten Lehrerinnen und Lehrer  verringern durch:

  • weniger Schüler(innen) pro Klasse 
  • wirksamere Strategien im Umgang mit verhaltensauffälligen, leistungsschwachen und unmotivierten Schülern 
  • Verringerung des Lärmpegels an den Schulen 
  • wirksamere Sanktionsmöglichkeiten 
  • Reduzierung des Verwaltungsaufwandes 
  • veränderte Arbeitszeitmodelle, die nicht nur die wöchentliche Zahl der Unterrichtsstunden berücksichtigen.

4. Lehrerinnen und Lehrer, die in ihrem beruflichen und privaten Umfeld bei hohem beruflichem Engagement genügend Unterstützung und positive Motivation erfahren, sind weniger von psychischen und psychosomatischen Krankheiten betroffen. Als entscheidende Faktoren, die bei der Verarbeitung beruflicher Belastungen helfen, wurden genannt:

  • das eigene berufliche Ethos 
  • das Verhältnis und die Einstellungen zu Kindern und Jugendlichen 
  • die Wertschätzung und Anerkennung der eigenen pädagogischen Arbeit und des Berufs generell durch Schüler, Eltern, Schulleitung, im Kollegium und in der Gesellschaft.

Daraus leiten sich nicht nur wichtige Orientierungen für die Bildungspolitik ab, sondern auch Anforderungen an berufliche Voraussetzungen und an die Ausbildung künftiger Lehrer(innen).

5. Einen besonders hohen Stellenwert besitzt nach Meinung der befragten Lehrer(innen) das soziale Klima an einer Schule. Es wirkt zum einen als enormer psychosozialer Belastungsfaktor, wenn die sozialen Beziehungen im Kollegium und zur Schulleitung gestört sind, unterrichtliche Kooperation und Koordination nicht oder nur mit großen Anstrengungen zustande kommen, die Qualität des Unterrichts nicht thematisiert wird, innovative Ideen oder Konzepte abgelehnt oder gar nicht erst entwickelt werden. In den umgekehrten Fällen kann es zum anderen auch als wichtiger Entlastungsfaktor wirken und bei der Verarbeitung beruflicher Belastungen helfen.

6. Die eigenen pädagogischen Kompetenzen und Fähigkeiten werden oft als nicht ausreichend für die heutige Schülergeneration betrachtet. Die damit verbundenen erhöhten psychischen Belastungen führen zunächst zu vermehrten Anstrengungen der Lehrerinnen und Lehrer; stellt sich kein Erfolg ein, kann es leicht zum Umschlag in Resignation und in der Folge zu psychosomatischen Erkrankungen kommen. Mangelnde Zeit für die wachsenden sozialen und interaktiven Anforderungen sowie die Organisation der Arbeitsabläufe (wie z.B. zerstückelte Stundenpläne, Häufung von Unterricht an einem Tag, Unterricht an verschiedenen Schulen oder ungewollte, rasche Versetzung an andere Schulen und damit das Beenden engagiert begonnener Projekte) verursachen das Erleben von Erfolglosigkeit, Überforderung und Frustration. Im Spannungsfeld zwischen pädagogischem Auftrag sowie den Erwartungen von Schülern und Eltern fühlen sich nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer von Kollegen und Schulleitungen häufig alleingelassen, zu wenig unterstützt oder sogar gemobbt. Diese von den Pensionären genannten Umstände beschreiben nicht nur die stark veränderten Arbeitsbedingungen im Schulbereich, sondern verweisen auch auf eklatante Mängel in Aus und Fortbildung.

Mögliche Ursachen

Oft beginnen junge Menschen ein Lehramtsstudium ohne angemessene Selbsteinschätzung bzw. Rückmeldung, ob sie auf Grund ihrer Persönlichkeit den Anforderungen dieses Berufes auf Dauer gewachsen sein werden. Häufiges Studienwahlmotiv ist das Interesse an einem bestimmten Fach oder die Vorstellung, ein in der eigenen Schulzeit erlebtes (und idealisiertes) Lehrerbild selbst umsetzen zu können. Dabei können  auf dem Hintergrund der eigenen Schülerbiografie  die zahlreichen mit diesem Beruf verbundenen Belastungsfaktoren  in der Regel zu Studienbeginn nicht realistisch eingeschätzt werden.
Die Entwicklung und Förderung personaler und interaktiver Kompetenzen spielt in allen drei Phasen der Lehrerausbildung eine viel zu geringe Rolle. Angebote zur Stärkung fachdidaktischer und pädagogischer Professionalität und Selbstvertrauen, das von einer Kultur der Anerkennung gespeist wird, sowie kollegiale Teamarbeit, Supervision und Intervision, sind noch immer den wenigsten LehrerInnen ausreichend vertraut und in keiner der drei Ausbildungsphasen die Regel.

In der zweiten Phase wird über vorgegebene soziale und rechtliche Strukturen Einzelkämpfertum gefordert und gefördert, statt die dringend erforderliche Zusammenarbeit  einzuüben.

Wenn Studierende im Kontext von Schulpraktischen Studien oder Referendare in der zweiten Phase auf persönliche Defizite angesprochen werden, bleibt es letztlich in ihrem Ermessen, ob sie diese Herausforderung annehmen und daran arbeiten oder sich ihnen entziehen. Diese Unverbindlichkeit bedeutet bei ansonsten vorhandenen fachlichen Kompetenzen, dass diese Studierenden und ReferendarInnen häufig auch die erste und zweite Staatsprüfung bestehen, obwohl den an der Prüfung Beteiligten  im Grunde klar ist, dass diese LehrerInnen früher oder später pädagogisch unfruchtbare und/oder krankmachende Verhaltensmuster zeigen werden und deshalb – in gewisser Weise vorhersehbar  mit den extremen Belastungen dieses Berufs auf Dauer nicht angemessen umgehen können.

Die Anwesenheit in der Schule wird u.a. auch deshalb als belastend angesehen, da Schule keinen anregenden Lern und Lebensraum für Lehrerinnen und Lehrer bietet, sodass jede/r möglichst schnell „flieht“, statt den Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen zu suchen.

Durch zu viele belastete Lehrer und Lehrerinnen breitet sich in manchen Schulen eine resignative Stimmung aus, in der das Klagen die Freude an der Arbeit überlagert.

Externe Unterstützungsangebote (z.B. Schulpsychologischer Dienst, Beratungs und Förderzentren) sind mit so geringen personellen Ressourcen ausgestattet, dass sich Lehrer und Lehrerinnen zwangsläufig allein gelassen fühlen müssen.

Neben vielfach unzureichenden äußeren Rahmenbedingungen sind auch bestimmte innere Haltungen und Selbstkonzepte nach Auffassung der Arbeitsgruppe hinderlich für den Aufbau einer professionellen Identität  im Lehrerberuf.

So fällt es vielen Lehrkräften schwer:

  • konstruktiv mit Kritik umzugehen, 
  • sich selbst und gegebene Beziehungskonstellationen wahrnehmen und reflektieren zu können, 
  • eigene Gefühle als wesentliche Erkenntnisquellen zu akzeptieren, 
  • den eigenen Anteil an problematischen Situationen zu erkennen, 
  • „Beobachten“, „Interpretieren“ und „Bewerten“ zu unterscheiden, 
  • komplexe Wirkungszusammenhänge zu erkennen und unterschiedliche Erklärungsmuster differenziert einzusetzen, 
  • positive Seiten eines Schülers mit schlechten Schulleistungen zu sehen und zurückzumelden.

Oft werden problematische Lehrer und Lehrerinnen von Klasse zu Klasse weitergereicht und schließlich an eine andere Schule versetzt.

Im Gefolge von PISA zu erwartende Vergleichstests werden den Druck auf Lehrer und Lehrerinnen verstärken und zu weiteren psychosomatischen Krankheitsbildern führen, wenn nicht parallel unterstützende Maßnahmen auf allen Ebenen der Lehrerbildung erfolgen.

Bereits vorhandene Bemühungen

Aus Modellversuchen oder auf Grund des besonderen Engagements von Mitgliedern der eingangs erwähnten Arbeitsgruppe des Zentrums für Lehrerbildung der Universität Kassel bzw. ihrer jeweiligen Dienststellen kann – beispielhaft – von folgenden positiven Erfahrungen berichtet werden:

  • persönliche Beratungsgespräche nach wenig erfolgreichen Schulpraktika im Verlauf des Studiums,
  • Qualifizierung der Pädagogischen Mitarbeiter in den Schulpraktischen Studien der ersten Phase der Lehrerbildung für persönliche Beratungsaufgaben,
  • ein breites Spektrum an Angeboten zur Überprüfung und Entwicklung personaler und interaktiver Kompetenzen,
  • Einstiegsfortbildung und Supervision für Ausbildungsbeauftragte durch das Amt für Lehrerbildung (AfL), bis 2001 durch das Hessische Landesinstitut für Pädagogik (HeLP),
  • statt regelmäßiger Besuche der Seminare (Ausbilder und Teilnehmer) im Unterricht von Referendarinnen und Referendaren wird am Studienseminar Bad Hersfeld im Rahmen der Seminararbeit Unterricht gemeinsam geplant, durchgeführt und reflektiert, wobei die Ausbilder für das Ge- oder Misslingen mitverantwortlich sind,
  • privat finanzierte Fortbildung, um die erforderlichen psychosozialen Kompetenzen nachträglich zu erwerben,
  • Supervision bzw. Einführung in Intervision durch Schulpsychologen oder Supervisorinnen,Einführung eines gestuften pädagogischen Vorgehens und Entwicklung eines Leitfadens für die professionelle Beobachtung verhaltensauffälliger Schüler durch die Schulpsychologin in Kooperation mit Jugendhilfe und Grundschule ,
  • Schulleitungen organisieren im Rahmen der Schulprogrammarbeit Teamarbeit und gegenseitige Hospitationsmöglichkeiten, so dass über „critical friends“ eine Rückmeldung ermöglicht wird.

Solche Beispiele sind sicher landauf, landab zu finden. Die in solchen lokalen oder regionalen Projekten Engagierten haben allerdings häufig das Gefühl, zu wenig institutionelle Unterstützung zu erhalten, so dass der Erhalt oder gar Ausbau solcher Maßnahmen eher unsicher erscheint. Entsprechende Initiativen zu dokumentieren und zu vernetzen, ist eine wichtige Aufgabe.

Weitere Forderungen und Vorschläge

Auf dem dargestellten Hintergrund sehen wir es als dringend erforderlich an, dass Lehrer und Lehrerinnen neben ihren Sach und Vermittlungskompetenzen grundlegende personale und sozialinteraktive Kompetenzen entwickeln. Insbesondere in leitenden Funktionen werden Menschen gebraucht, die andere fördern und wertschätzen sowie Systembedingungen geschaffen werden, in denen anerkennendes  Lernen und Arbeiten gefördert wird.

Lehrerausbildung  – universitäre Phase

Wir fordern daher eine praxisorientierte Ausbildung, in der die tatsächlichen objektiven wie subjektiven Anforderungen des Lehrerberufs im Vordergrund stehen und deren Ziel ein professionelles berufliches Selbstkonzept ist.

Deshalb sollten sich zukünftige Lehrerinnen und Lehrer bereits zu Beginn ihres Studiums mit den späteren Anforderungen des Lehrerberufs auseinandersetzen. Dies schließt eine kritische Überprüfung ihrer Motivationen und Erwartungen ein und könnte in verschiedenen Formen geschehen:

Bei der Anmeldung zum Studium sollte der Studienwunsch schriftlich begründet und Erfahrungen, die im Zusammenhang mit dem Lehrerberuf stehen (z.B. Leiten einer Jugendgruppe, Nachhilfeunterricht etc.) genannt werden.

Zudem sollte die Auseinandersetzung mit der persönlichen Berufswahl und  -eignung Gegenstand wenigstens eines einführenden Seminars sein. Dabei ist ein großes Spektrum an Möglichkeiten anzubieten. Solche Angebote können dazu dienen, den Studierenden kompetente Rückmeldungen zu geben, über welche personalen und interaktiven Kompetenzen sie verfügen und welche studienbegleitenden persönlichkeitsfördernden Seminare, ggf. therapeutischen Angebote angezeigt sind.

Um Distanz zur eigenen Lernbiografie bekommen zu können und zur professionellen Vorbereitung auf das Organisieren und Begleiten von Lernprozessen sollten die Beobachtung und Begleitung von Lernprozessen einzelner Schülerinnen und Schüler sowie eine Reflexion eigener Lernprozesse selbstverständlicher Bestandteil des Studiums werden. Entsprechende Seminare sind bereits früh im Studium einzurichten und qualifiziertes Personal insbesondere im Bereich der Erziehungswissenschaft und Psychologie, aber auch der Fachdidaktiken dafür zu gewinnen.

Den schulpraktischen Studien in kleinen Teams, begleitet durch Tutoren oder Mentoren, kommt hierbei zentrale Bedeutung zu. Nur über eine solche langfristig angelegte TheoriePraxisVerzahnung kann eine Qualitätssteigerung erreicht werden. Die Schulpraktika sind in Formen  „Forschenden Lernens“ zu intensivieren und ggf. zu verlängern. Hierzu ist die Kooperation mit der zweiten Phase wünschenswert und erforderlich. So könnte z.B. jeweils ein/e Vertreter/in der ersten und zweiten Phase der Lehrerausbildung Praktika betreuen. Entsprechende Ausbilder wären für diese Tätigkeit angemessen freizustellen.

Von Anfang des Studiums an wie in der zweiten Phase gilt es, das Arbeiten in Teams als durchgängiges Prinzip zu fördern.

Ebenso sollten Ausbildungsinhalte und methoden von Anfang an den didaktischen Anforderungen entsprechen, die ab der zweiten Phase von Lehrern und Lehrerinnen gefordert werden müssen und nicht erst dann erworben werden sollen. Dabei geht es nicht um eine Alternative zwischen guten fachlichen und pädagogischdidaktischen Qualifikationen, sondern um ein Gleichgewicht und eine Integration beider Zugangsformen und Perspektiven.

Lehrerausbildung  im Studienseminar

Bisher kann sich jede/r Lehrer/in auf eine Ausbilderstelle bewerben. Wir fordern, dass Ausbilderinnen und Ausbilder sich über entsprechende Fortbildungen qualifizieren und sowohl personale als auch seminardidaktische Kompetenzen nachweisen. Eine Verpflichtung zur Supervision für Ausbilder und Ausbilderinnen (analog der Pflicht der Sozialarbeiter in den Jugendämtern) könnte hierbei hilfreich sein. Im Verfahren einer Bewerbung auf eine Ausbilderstelle ist zu klären, ob die Persönlichkeit des/der Interessenten/in geeignet ist.

Statt der bisher üblichen Praxis, dass ein/e Referendar/in im Rahmen des Seminars einzelne Unterrichtsstunden vorführt, ist dem gemeinsamen Planen von Unterricht, das der Entwicklung von Unterrichtskonzepten dient, der Vorzug zu geben. Hier wären Konzepte möglich, in denen „Planung in peers“ praktiziert wird. Aufgabe der Ausbilder wäre dann, die Planung von Unterricht in Kleingruppen zu moderieren und zu begleiten.

Eine geeignete Form, individuelle Lernwege zu dokumentieren, stellen sog. Portfolios dar.

Bedeutend mehr Aufmerksamkeit als bisher müsste in dieser ersten langen Praxiszeit auf die Entwicklung psychosozialer Kompetenzen gelegt werden, um insbesondere im Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen kompetenter werden zu können. 

Lehrerfortbildung

Um das innovative Potential von Junglehrerinnen und Junglehrern für Schule und Unterricht zu nutzen und zu erhalten sowie ein frühzeitiges Abgleiten in Frustration und Resignation zu vermeiden, sollte insbesondere in der Berufseingangsphase darauf geachtet werden, dass Lehrer und Lehrerinnen nicht mit den schwierigsten Lerngruppen konfrontiert werden. Zu wünschen wäre ein gleitender Anfang mit voller Bezahlung, aber verminderter Stundenzahl sowie Fortbildungsverpflichtung und Supervision.

Wünschenswert sind weiterhin Konzepte zur langfristigen Stabilisierung für berufserfahrene Kollegen. Dazu gehören neben regelmäßiger kollegialer Hospitation (mit Auswertung) auch verpflichtende schulinterne und individuelle Fortbildung  im psychosozialen Bereich.  Die Einführung eines Punktesystems und die Zertifizierung erworbener Qualifikationen, wie sie auch in vergleichbaren akademischen Berufsgruppen üblich sind, könnte die Motivation zur Fortbildung erhöhen.

Um entsprechende Fortbildung nicht als zusätzliche Belastung, sondern als Unterstützung erfahren zu können, sind veränderte Arbeitszeitmodelle zu entwickeln, die sowohl Kooperations und Fortbildungszeit als auch erforderliche Arbeitszeit zu Hause (Korrekturen, Vor und Nachbereitung von Unterricht, Elterngespräche etc.) berücksichtigen.

Um den weiter wachsenden Anforderungen begegnen zu können, werden Schulpsychologen und Sozialarbeiter in ausreichender Zahl direkt an den Schulen, gerade an sozialen Brennpunkten, erforderlich sein. Diese müssten entsprechend qualifiziert sein.

Älter werdende oder gesundheitlich beeinträchtigte Lehrerinnen und Lehrer sollten die Möglichkeit erhalten, sich zunehmend aus dem Klassenunterricht herausnehmen zu können und sich mit Aufgaben im Bereich der Förderung von Kindern in Kleingruppen oder dem Aufbau bzw. der Verwaltung von Schulbibliotheken oder der Lehrerfortbildung zu befassen.

Schulleitung

Schulleiterinnen uns Schulleiter haben einen erheblichen Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit eines Kollegiums. Insofern fordern wir eine entsprechende Vorbereitung und Ausbildung für diese Führungsaufgaben: Gesprächsführung, Jahres bzw. Mitarbeitergespräche, Konfliktmoderation, Management, Controlling.

Dabei soll die Forderung nach entsprechender Qualifizierung nicht die Hierarchie stärken, sondern gerade die Kompetenz fördern, die Arbeit eines Kollegiums in überschaubaren Arbeitsgruppen voranzubringen. Auch für ihre eigene Entwicklung brauchen Schulleiter Unterstützung: Coaching-Angebote, Supervision, Mentoring-Konzepte etc.

Im Kontext einer Bewerbung auf eine Schulleiterstelle ist zu klären, ob die Persönlichkeit des/der Interessenten/in für diese Tätigkeiten tatsächlich geeignet ist.

Um die spezifischen Schulleitungstätigkeiten ausüben zu können, benötigen Schulleiterinnen und Schulleiter entsprechende Zeitressourcen, für die das Schulleitungsdeputat erhöht werden muss. 

Rahmenbedingungen

Damit diese Forderungen Praxis werden können, muss die Politik entsprechende Rahmenbedingungen entwickeln. Zu ihnen gehören im Wesentlichen folgende Aspekte:

  • Verzahnung der ersten Phase (Studium) mit der zweiten Phase (Referendariat) der Lehrerausbildung sowie der Fortbildung über die Koordination durch regionale Lehrerbildungszentren,  
  • die Entwicklung eines Lehrerleitbildes, das unter Beteiligung aller drei Phasen die Aspekte fachliche und überfachliche Vermittlungskompetenz, Diagnosefähigkeit, Betreuungs und Beratungskompetenz sowie Teamfähigkeit angemessen darstellt, 
  • Schaffung personeller Voraussetzungen, die eine intensivere fachdidaktische und erziehungswissenschaftliche Praxisorientierung und begleitung in der ersten und zweiten Phase ermöglichen, wobei Berufslaufbahnorientierung Teil dieser Begleitung  sein muss, 
  • Schaffung eines rechtlichen Rahmen, der die Arbeit im Team bereits in der ersten und zweiten Phase weitreichend ermöglicht und dies auch entsprechend in den Prüfungen berücksichtigt, 
  • Ermöglichung von Arbeitszeitregelungen, die sowohl die Eingangsbelastungen der Berufsanfänger berücksichtigen als auch den altersbedingten Belastungen des Lehrerberufs angemessen Rechnung tragen, 
  • Erhöhung der Zahl der Schulpsychologen und Sozialarbeiter zur Unterstützung der Lehrkräfte im Bereich der Erziehungsaufgaben  und deren stärkere Einbindung in die schulische Arbeit, 
  • personelle Verstärkung von Supervisions und Selbsterfahrungsangeboten in der Lehreraus- und fortbildung, um eine Qualifizierung der Lehrerschaft zur Verarbeitung berufsbedingter psychosozialer Belastungen zu ermöglichen, 
  • Stärkung der hessischen Lehrerfortbildung, um eine Anpassung der Lehrerfortbildung an zeitgemäße Bildungsinhalte und methoden einerseits zu gewährleisten und andererseits besondere Fortbildungs und Qualifizierungsmaßnahmen für Berufseinsteiger sicherzustellen, 
  • Honorierung besonderer Fortbildungsleistungen und Zusatzqualifikationen in der Lehrerlaufbahn, 
  • Erhöhung der Schulleitungs- und Schuldeputate, damit nach entsprechender verbindlicher Qualifizierung die Schulleitungen ihre Führungsaufgaben im Sinne eines modernen Betriebsmanagements angemessen wahrnehmen und so Schul und Qualitätsentwicklung verantwortlich steuern können.
Literatur:
  • Füller, Christian (2002): Deutsche Lehrer sind reif für die Klinik. In: taz Nr. 6927 vom 11.12.2002, S. 14.
  • Schaarschmidt, Uwe (2002): Die Belastungssituation von Lehrerinnen und Lehrern. Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus der Potsdamer Lehrerstudie. In: Pädagogik 54(2002) 78, S. 813
  • Sieland, Bernhard/Tacke, Marion (2000): Ansätze zur Förderung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit dienstälterer Lehrkräfte in Niedersachsen. Universität Lüneburg, Januar 2000
  • Sieland, Bernhard (2002): Verhaltensprävention – ein unverzichtbarer Schritt. Wie können Pädagogen ihre Gesundheit und Leistungsfähigkeit fördern? In: Pädagogik 54(2002) 78, S. 2228