Schamanisches Playbacktheater bezieht sich auf traditionelle Formen des Erzählens von Geschichten in vor-industriellen Gesellschaften, in deren Mittelpunkt die großen Erzählungen stehen. Vorliterarische, traditionelle Schamanen bewegten sich nicht einem vom Ich-Bewusstsein des modernen Menschen geprägten Raum. Die Vorstellung eines von anderen und der Welt abgegrenzten EGO war ihnen unbekannt. Persönliche Geschichten in einer schamanischen, nicht ego-zentrierten Weise auf der Bühne zur Darstellung zu bringen, bedeutet, sie nicht einfach nachzuspielen, sondern in einer vertikalen Dimension zu transformieren. In diesem Sinn kann Playbacktheater verstanden werden als kreativer Beitrag zu einer Kultur, die auf geschenkten Gaben, nicht auf kommerziell erworbenen Gütern beruht. Konsequenzen für das professionelle Training von Playbackpraktikern werden diskutiert.
Schlüsselwörter: Playbacktheater, Schamanismus in traditionellen Kulturen, Ego-zentriertes Bewusstsein, der Verlust der großen Erzählungen, Geschichten erzählen als Teil einer Kultur der geschenkten Gaben
Eine Playbacktheater Aufführung irgendwo auf der Welt. Gespielt wird im klassischen Stil der New Yorker Schule. Der Conductor wärmt das Publikum an, stimmt es auf das Thema ein oder interviewt einen Erzähler.
Die Spieler sitzen aufrecht, konzentriert und gelassen zugleich auf der Bühne, in ´schamanischer Haltung’, wie sie es irgendwann einmal gelernt haben, - whatever this means. Sie hören von Ereignissen, Gefühlen, Stimmungen, gehen innerlich in Kontakt mit dem Gehörten. Eigene Geschichten fallen ihnen ein, damit verbundene Gefühle werden wachgerufen. Sie spüren und lauschen in sich hinein und versuchen sich gleichzeitig nach außen auf den Kern, auf den roten Faden dessen, was erzählt wird, zu konzentrieren. Innere Bilder steigen auf. Erste Ideen zur spielerischen Umsetzung schieben sich dazwischen. Als erfahrene Playback-Praktiker versuchen sie, leer zu werden, „in-between“, „schamanisch“ zu sein oder wenigstens so zu wirken.
Dem Musiker und dem Conductor geht es nicht anders. Auch sie floaten irgendwo zwischen verschiedenen Ebenen von äußeren Eindrücken und inneren Impulsen hin und her. Was hat all das mit schamanischer Haltung zu tun?
Als Teil der belebten Natur, als höheres Säugetier, als nicht-instinktgebundenes Lebewesen zeichnet den Menschen bei allen evolutionären Prägungen vor allem aus, dass er die Fähigkeit besitzt, sich als geschichtliches Wesen zu begreifen, sich selbst im Blick auf seine Vergangenheit und Zukunft als Individuum und Gemeinschaftswesen zu reflektieren. Individuation (’Wer bin ich?’) und Enkulturation (‚ Zu wem gehöre ich?’) verschränken sich im Prozess der Sozialisation. Als lebenslange Suche nach Autonomie und Verbundenheit beschäftigt uns die angemessene Balance zwischen beiden Polen in jeder Alterstufe aufs Neue, das große Thema der interaktionistischen Sozialpsychologie in der Tradition von Ervin Goffman.
Sind diese Fragen und die damit verbundenen persönlichen Identitätskonflikte nicht auch Hintergrundthema jedes großen Theaters, das mehr beabsichtigt, als uns nur in einen rauschenden Bilderbogen zu entführen? „Wer bin ich? Zu wem gehöre ich? Was bleibt von mir, wenn ich nicht mehr bin? Was vererbe ich meinen Kindern? Welche Spur hinterlasse ich im kollektiven Gedächtnis der Gemeinschaft?“
Der Klärung dieser Fragen dienten auch die großen Erzählungen der Vergangenheit: die Schöpfungsmythen vom Anfang der Welt, die Geschichten vom Kampf der Götter, vom Bund Gottes mit seinem Volk und dessen Erfüllung in seinem Sohn, Erzählungen von großen Entdeckungen, wissenschaftlichen Erfindungen und visionären Gesellschaftsentwürfen; Erzählungen, die Orientierung und Halt gaben und deren Verschwinden wir mit Neil Postman beklagen mögen?
Heute beziehen wir uns in der Öffentlichkeit, in Schulen, Hochschulen, Parteien und Kirchen auf gedruckte Worte, auf kanonische Texte aus den Traditionen religiöser Gemeinschaften, auf die großen Deklarationen der Menschenrechte in literarischer oder politischer Form, auf persönliche Zeugnisse bedeutender Humanisten und Philosophen aus verschiedenen Jahrhunderten, weitestgehend also auf schriftliche Dokumente, deren Botschaft wir der heranwachsenden Generation nahe zu bringen versuchen.
Die Botschaften, mit denen diese im Alltag bombardiert wird, sprechen eine andere Sprache: „Du bist für Dein Schicksal selbst verantwortlich. Du musst Deine eigene Ich-AG gründen. Jeder ist seines Unglücks Schmied.“ In deren Mittelpunkt steht fast immer das individuelle EGO, selten die Gemeinschaft, noch seltener oder nie die darüber hinausgehenden Fragen nach Leben und Tod.
In vorliterarischen Gesellschaften war es die persönliche Aufgabe von Schamanen, Brücken zu schlagen zwischen den Einzelnen und ihrer Gemeinschaft, zwischen den Toten und den Lebenden, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen dem, was ist, was war und was sein wird. Sie taten dies in Form von Ritualen, die bestimmt waren durch Musik und Tanz, durch körperliche Berührung, durch Masken und Bildern, die sie an die Wand malten.
Traditionelle Schamanen waren Seelenführer, Konduktoren, Vermittler zwischen verschiedenen inneren Welten; manchmal auch, aber nicht immer Heiler, Medizinmänner, Jagdzauberer und Häuptlinge ihrer Sippen und Gemeinschaften. Sie arbeiteten nicht mit Texten, sondern -in der Sprache des Playbacktheaters- mit den Mitteln von sound, movement und fluid sculptures, durch die Inszenierung von klangvollen, bewegten, farbigen Bildern. Qualifiziert für diese Aufgabe waren sie durch ihre einzigartige persönliche Erfahrung, sich in mehr als nur einer Ebene der Wirklichkeit bewegen zu können. In der Regel kamen sie dazu im Durchgang durch eine schwere persönliche Krise.
Vorliterarische, traditionelle Schamanen bewegten sich nicht in einem vom Ich-Bewusstsein des modernen Menschen geprägten Raum. Die Vorstellung eines von anderen und der Welt abgegrenzten EGO war ihnen unbekannt. In gewisser Weise, könnte man aus heutiger Sicht sagen, arbeiteten sie mit praepersonalen, archaischen, magischen, allenfalls mythischen Bewusstseinszuständen. Was ihnen (noch) zugänglich war und uns Heutigen weitgehend verschlossen ist, war ihre Verbindung zum größeren Ganzen, zu einer umfassenden Erfahrung der Wirklichkeit des Lebens, die sich nicht beschränkt auf die wenigen Ausschnitte, die uns unsere rein rationalistische, egozentrische Weltsicht als Realität vorgaukelt. Auch wenn ihr Bewusstseinsspektrum vor-rational begrenzt war, war es doch in mancher Hinsicht weniger eingeschränkt als das heutiger Menschen. Sind schamanische Wanderungen zwischen verschiedenen (Bewusstseins-)Welten für uns noch von Interesse? Kann es Ziel einer Playbacktheateraufführung sein, solche umfassenderen Wirklichkeitserfahrungen zu ermöglichen oder begnügen wir uns damit, vorhandene Selbstbilder und Selbstkonzepte zu bestätigen und zu bekräftigen?
Die aus meiner Sicht größte Versuchung in unseren Aufführungen besteht darin, das Publikum unterhalten zu wollen, zum Lachen zu bringen und durch unsere Spontaneität und Improvisationskunst zu beeindrucken. Solche Aufführungen können hinreißend sein; letztlich dienen sie aber vor allem unserem eigenen Größenselbst. Wir genießen es, wenn das Publikum unsere Arbeit bewundert, - oft zu Recht.
Und auch als Erzähler genießen wir es, unsere Lieblingsgeschichten zu erzählen und vor einem Publikum aufgeführt zu sehen. Aber verändern uns diese Art von Geschichten?
Je länger ich Playbacktheater praktiziere, desto weniger interessiert mich eine Wiedergabe von Geschichten, durch die mehr oder weniger nur das bestätigt wird, was zuvor als persönliche Erfahrung erzählt wurde. Was haben wir erreicht, wenn ein Erzähler nach der Darstellung seiner Geschichte spontan sagt: „Genauso ist es gewesen! Woher wusstet Ihr die Einzelheiten?“ Die Antwort kann dann lauten; “Weil wir die Geschichte im Grunde schon kannten, sie so oder ähnlich auch erlebt haben.“
Es kann für den Einzelnen sehr entlastend, ja befreiend sein, die eigene Geschichte als Teil einer kollektiven Erfahrung wieder zu entdecken. Aber wird hier – gelegentlich – nicht nur ein altbekanntes (individuelles wie kollektives) Selbstbild bestätigt und verfestigt, ohne durch eine neue Sichtweise transformiert zu werden? Ist das überhaupt wünschenswert?
Nach meiner Erfahrung tut sich hier, besonders für therapeutisch geschulte Playbackspieler, eine neue Falle auf; nämlich die, dem Erzähler eine schlüssigere, bessere Interpretation der eigenen Geschichte oder im Falle eines Konflikts eine Lösung anzubieten. Für die Spieler, vielleicht sogar für das Publikum mag dies befriedigend sein, wenn eine gleichsam offene Gestalt auf diese Weise geschlossen wird. Bei den betroffenen Erzählern löst es - meiner Erfahrung nach – nicht selten Abwehr und inneren Rückzug aus.
Wie auf einem schmalen Grat oder bei einer Wasserscheide liegt dicht daneben der schamanische Versuch, eine Stimmung oder erzählte Geschichte zu transformieren, indem sie in einen größeren Zusammenhang eingebettet wird und sich dadurch eine erweiterte, neue Sichtweise auftut. Äußeres Anzeichen dafür ist oft, dass der Erzähler wie in sich versunken still sitzen bleibt und erst einige Zeit braucht, um wieder in der Gegenwart der Aufführung anzukommen, - als ob er aus einer anderen Welt (oder anderen Wirklichkeitserfahrung) zurückkehren würde. Solche Momente erinnern an schamanische Reisen, auch wenn diese sicherlich viel länger und intensiver sind oder waren.
Möglich wird diese Erfahrung nicht durch eine horizontale Erweiterung der Geschichte, also durch Ausschmückung und Anreicherung des Erzählten, sondern eher durch eine Verdichtung und metaphorische Verknappung, die zu einer vertikalen Transformation führt. Gelingt dies im Spiel, fühlt der Erzähler sich weniger erheitert und bestätigt als vielmehr berührt und verzaubert. Diese Art zu spielen, schlage ich vor, schamanisch zu nennen. So zu spielen, ist nicht einfach und steht in direktem Gegensatz zu einer 1:1-Umsetzung der Geschichte auf der Bühne, wie sie nicht selten zu beobachten ist.
Im Playbacktheater schenkt der Erzähler dem Publikum seine Geschichte. Der Conductor reicht sie weiter an den Musiker und die Spieler.Von der Bühne empfängt der Erzähler seine Geschichte in verdichteter Form als Geschenk zurück. Die Zuschauer sind nicht nur Zeugen dieses Vorgangs von direktem Geben und Empfangen, einem Austausch ohne dazwischen geschobenes Zahlungsmittel, sondern treten selbst in diesen Kreislauf ein. Geschichten antworten auf andere Geschichten, erweitern deren Themen und vertiefen deren Gefühle. Dieses Spiel im Spiel des Playbacktheaters ist Relikt einer vor-industriellen Kultur, die auf dem Austausch von 'Gaben' und nicht von Waren beruht. Waren gehen in den Besitz dessen über, der sie erworben hat und für sich verbraucht oder verzehrt. Gaben müssen weitergegeben werden, um ihre Wirkung zu entfalten. Wie Marshall Sahlins in seinen Studien zu den Jäger- und Sammlergesellschaften gezeigt hat, entsteht Knappheit in den modernen Industriegesellschaften weil Produktion und Distribution über den Preis geregelt werden und die hauptsächlichste Tätigkeit der Menschen darin besteht, mit Waren Gewinne zu machen, zu verdienen und auszugeben. Die Geschichten im Playbacktheater 'gehören' niemand; oft sind es gerade die noch nie erzählten, nie 'gehörten' Geschichten, die eine neue Verbundenheit schaffen. Sie bilden keine Besitzinseln, wo die einen auf Kosten der anderen mehr haben und sich deshalb vor denen schützen müssen, die weniger haben.
Der Kreislauf der Geschichten im Playbacktheater ist das genaue Gegenteil der Konsumkultur im Internet mit seiner endlosen Schnäppchenjagd, wo die Bedürfnisse sich nach dem richten, was gerade kostengünstig erworben werden kann. Erwerb und Besitz von Waren dienen dem eigenen Ego und wie die Soziobiologen gerne behaupten, dem eigenen sexuellen Reproduktionsvorteil. Fox nannte das Playbacktheater ein Theater der Liebe, einen 'act of service'. In seinem Sinn könnte man es auch ein 'Theater des Geschenks', der verschenkten Geschichten nennen. Oder wie der amerikanische Dichter Walt Whitman es in seinem 'Gesang von mir selbst' ausgedrückt hat:
'Ich scheide wie Luft, ich schüttle meine weißen Locken gegen die enteilende Sonne,
Ich lasse mein Fleisch in Wirbeln entströmen und in Fäden fortfließen.
Ich vermache mich dem Schmutz, um aus dem Grase, das ich liebe, zu keimen,
Brauchst du mich wieder, so suche mich unter deinen Stiefelsohlen!' (1904, S.104)
Was bedeutet das für die Ausbildung der Spieler, des Musikers und des Conductors?
Auf dem Hintergrund meiner begrenzten Erfahrung würde ich folgende Hinweise für hilfreich halten:
Zusammenfassend soll betont werden, dass es bei schamanischem Playbacktheater nicht um eine neue, möglicherweise esoterische Variante der klassischen Form von Playbacktheater handelt. Gemeint ist vielmehr der Vorschlag, an archaische, vorliterarische Traditionen öffentlicher Theateraufführungen in einer Weise anzuknüpfen, dass nicht die Bestätigung ich-zentrierter Selbstkonzepte im Mittelpunkt steht, sondern auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen erweiterte Resonanzen auf umfassendere Wirklichkeiten möglich werden.
Shaman like Playback Theatre
Summary: Shaman like Playback Theatre refers to traditional concepts of story telling in pre-industrial societies with their focus on great tales. Traditional pre-literary shamans did not live in an environment coined by the ego- consciousness of modern men. Enacting stories on stage in a non-ego centered way means to transform the essence of the story in a vertical dimension. Playback Theatre can be understood as reinvention of a creative culture of gift opposite to the modern market of commercial merchandise. Consequences for the professional training of Playback practitioners are discussed.
Key words: Playback Theatre, shamanism in traditional cultures, ego-centered consciousness, loss of great tales, story telling as presents in a culture of gifts.
Literatur:
Dauber, H. (2002): Abendländische Erzähltraditionen, in: Fuhr, R., Dauber, H. (Hg.) (2002): Praxisentwicklung im Bildungsbereich - ein integraler Forschungsansatz, Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S. 31-76
Dauber, H. (2006): Selbstreflexion im Zentrum pädagogischer Praxis. In: Dauber, H., Zwiebel, R. (Hg.) (2006): Professionelle Selbstreflexion aus pädagogischer und psychoanalytischer Sicht, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 11-39
Dauber, H., Auque-Dauber, Ch. (2008): Improvisation im Spiel des Playbacktheaters, in: Journal für LehrerInnenbildung: Spiel in der Lehrerbildung. 8. Jahrgang, 2/2008, S. 17-23
Dauber, H. (Hrsg.) (2008): Wo Geschichten sich begegnen - Gathering voices. Dokumentation der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Jonathan Fox in Anerkennung seiner wissenschaftlich-künstlerischen Leistungen auf dem Gebiet der Theaterpädagogik. Kasseler Beiträge zur Erziehungwissenschaft 3. Kassel: kassel university press
Fox, J. (1996): Renaissance einer alten Tradition. Playback-Theater. Köln: inScenario Verlag
Fox, J., Dauber, H. (Ed.) (1999), Gathering Voices. Essays on playback theatre, New Paltz, N.Y.: Tusitala Publishing
Fox, J., Dauber, H. (1999): Playbacktheater - wo Geschichten sich begegnen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt
Fuhr, R., Dauber, H. (Hg.)(2002): Praxisentwicklung im Bildungsbereich - ein integraler Forschungsansatz, Bad Heilbrunn: Klinkhardt
Hyde, L. ((2008): Die Gabe. Wie Kreativität die Welt bereichert. Frankfurt: S.Fischer
Sahlins, M.D. ((1972): Stone Age Economics. Chicago
Salas, J. (1998): Playback-Theater, Berlin: Alexander Verlag
Whitman, W. (1904): Grashalme. Leipzig